Reden

Wahlrecht I

Rede Ulrich Wilken September 2017 im Hessischen Landtag

– Es gilt das gesprochene Wort –

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Wahlbeteiligung am letzten Sonntag ist wieder hoch gegangen. Das ist gut, auch wenn es zeitweise aus Unionskreisen anders klang. Leider entscheiden sich Menschen, dieses demokratische Recht – meiner Meinung nach auch eine Verpflichtung – nicht wahrzunehmen, um diese haben wir in den letzten Wochen alle mit unterschiedlichen Zielsetzungen geworben. Es gibt aber auch Menschen, die nicht wählen dürfen. Um einige von ihnen soll es heute gehen – zunächst einmal zur kleineren der beiden Gruppen. Mehr als 80.000 Menschen mit geistiger Behinderung durften am vergangenen Sonntag nicht wählen, weil sie eine Betreuung in allen Angelegenheiten haben. Es sind also Menschen, die sowohl Unterstützung beim Umgang mit Geld sowie bei Gesundheitsfragen als auch Hilfe bei Terminen beim Amt erhalten. Doch Wahlrecht ist ein Menschenrecht, das auch Menschen mit Behinderungen zusteht, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN)

In den ersten Bundesländern wurde dies schon durchgesetzt. Eine Streichung aller Wahlausschlüsse wollen wir mit unserem Gesetz auch für Hessen erreichen. Es ist unsere demokratische Pflicht, für das uneingeschränkte Wahlrecht behinderter Menschen einzutreten.

(Beifall bei der LINKEN)

Ein Gegenargument, was wir häufig zu hören bekommen, ist, dass das Wahlrecht durch die Betreuer missbraucht werden könnte, indem sie ihre Klienten beeinflussen oder gleich für sie per Briefwahl die Kreuzchen machen. – Meine Damen und Herren, wir haben doch festgestellt, dass immer mehr Wählerinnen und Wähler heutzutage die Briefwahl nutzen, und sicherlich ist es wahr, dass es nicht sicher vor Manipulationen ist. Aber wir wollen doch deswegen nicht die Briefwahl abschaffen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es reicht, dass Manipulationen der Wahl unter Strafe stehen. Das gilt eben auch für die Betreuer. Sie werden also diese Straftat nicht begehen, weil sie damit sogar noch ihre berufliche Existenz riskieren. Dass eine bestimmte Gruppe behinderter Menschen nicht wählen darf, ist ein klarer Verstoß gegen Art. 29 der UN-Behindertenrechtskonvention. Wir müssen daher die Wahlrechtsausschlüsse von Menschen mit Behinderungen in den Wahlgesetzen ersatzlos streichen.

(Beifall bei der LINKEN)

Für Hessen tun wir das mit unserem Gesetzentwurf. Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben den Wahlausschluss bereits abgeschafft. Lassen Sie es uns hier in Hessen auch tun.

Nun zur deutlich größeren Gruppe. Eine andere Gruppe durfte am Sonntag nicht wählen, die mehr als 10 % der Bevölkerung im wahlberechtigten Alter ausmacht, weil sie formalrechtlich Ausländer sind. In Deutschland leben 8,6 Millionen formalrechtliche Ausländer im wahlberechtigten Alter. Sie sind bei uns von Parlamentswahlen ausgeschlossen. Es sind etwas über 10 % der Bevölkerung im wahlberechtigten Alter. Geht man auf die Ebene der Landtagswahlen, so wird die politische Mitbestimmung noch einem weitaus größeren Teil der Bevölkerung verwehrt, in Hessen sind dies 14,2 %. Auch auf der kommunalen Ebene, auf der EU-Staatsbürger bereits mit wählen dürfen – die sogenannten Unionsbürger –, liegt die Quote hoch, in meiner Heimatstadt Frankfurt am Main z. B. bei 14 %. In unserer Gesellschaft gibt es über 8 Millionen Erwachsene, die zwar die Gesetze und Regeln der Bundesrepublik achten müssen, aber nicht darüber mitbestimmen dürfen, wie sie z. B. im Bundestag entstehen. Ein Drittel von Ihnen lebt übrigens bereits länger als 20 Jahre legal in Deutschland. Uns ist klar, dass wir – anders als beim vorherigen Punkt – als Landtag noch nicht die gesetzgebende Kompetenz haben, sondern dass zuerst das Grundgesetz geändert werden müsste. Deswegen fordern wir in unserem Antrag von der Landesregierung ein entsprechendes Engagement auf Bundesebene, und ich hoffe, Sie werden mir dabei zustimmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Wahlrecht muss reformiert werden. Die Verbindung des Wahlrechts mit der Staatsbürgerschaft muss gekappt werden. Sie wird einer globalisierten Welt nicht mehr gerecht, in der Migration zur Norm geworden ist und Menschen aus verschiedenen Gründen – freiwillig und unfreiwillig – ins Ausland ziehen, z. B. für das Studium, die Beziehung oder auch, um Arbeit zu finden. Demokratie muss von allen in der Gesellschaft tagtäglich gelebt und erlebt werden, und politische Mitbestimmung aller Residierenden ist Teil davon. Chile oder beispielsweise auch Neuseeland machen vor, dass das Ausländerwahlrecht das Fortbestehen eines Nationalstaats nun wirklich nicht gefährdet.

(Beifall bei der LINKEN)

In Chile müssen die formalrechtlichen Ausländer über fünf Jahre im Land gelebt haben, um ihr Wahlrecht ausüben zu dürfen. Das neuseeländische Wahlrecht definiert sein Wahlvolk als „erwachsene neuseeländische Staatsbürger sowie für einen Zeitraum von mindestens einem Jahr permanent im Land Lebende“. – Das ergibt auch Sinn. Wer in Deutschland wohnt und zum sozialen, kulturellen, politischen Leben beiträgt und ebenso den politischen Entscheidungen und Gesetzgebungen der Regierung ausgesetzt ist, sollte auch wählen dürfen – egal, ob ein Stück Papier die Zugehörigkeit zu dem Land formalisiert oder nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen, dass das Demokratieprinzip für alle dauerhaften Bewohnerinnen und Bewohner der Bundesrepublik Deutschland gleichermaßen gilt, und nicht exklusiv für deutsche Staatsangehörige. Wenn Sie wissen wollen, wie das geht, kann ich Ihnen die Lektüre unseres Gesetzentwurfs im Bundestag empfehlen, Drucks. 18/3169. Mit der von uns damals vorgeschlagenen Grundgesetzänderung und der Änderung des Wahlrechts wird dem demokratischen Grundsatz Rechnung getragen, dass möglichst alle, die von der Ausübung von Staatsgewalt betroffen sind, auch gleichberechtigt an der Konstituierung dieser Staatsgewalt beteiligt werden müssen.

Durch Änderung der Art. 28 und 38 des Grundgesetzes sowie des Europawahl- und Bundeswahlgesetzes wird nichtdeutschen Staatsangehörigen mit einem mindestens fünfjährigen Aufenthalt in Deutschland die Möglichkeit der demokratischen Mitbestimmung durch Teilnahme an Wahlen auf europäischer und Bundesebene eröffnet. Ebenso würde die im Gesetzentwurf vorgeschlagene Änderung des Art. 28 des Grundgesetzes die Möglichkeit schaffen, dass wir für hessische Wahlen eine gute Regelung treffen können. Ich bitte Sie, den Hessischen Landtag, dem zuzustimmen, dass sich Hessen auf Bundesebene für diese Wahlrechtsänderung einsetzt.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, zusammenfassend: Mit diesen beiden wichtigen Änderungen wären bestimmt nicht alle Wahlrechtsprobleme gelöst. Aber wir wären ein paar enorme Schritte weitergekommen. Da dies – so ist der Vorschlag der Verwaltung – natürlich im Innenausschuss behandelt werden muss, aber, wie ich Ihnen gerade hoffentlich deutlich machen konnte, es sowohl sozialpolitische als auch integrationspolitische Inhalte gibt, bitte ich, dass wir den Gesetzentwurf und den Antrag mitberatend dem Sozial- und Integrationspolitischen Ausschuss überweisen. Wenn wir das so machen – ich habe große Hoffnung, dass wir das einmal schaffen –, dann müssen wir als Nächstes angehen, über das Wahlalter zu reden. Im Rahmen der Enquetekommission „Verfassung“ wird zu Recht z. B. vonseiten von Schülerinnen und Schülern an uns herangetragen, dass sie zwar mit 16 oder 17 Jahren eine Berufswahl treffen oder vielleicht sogar ein Studium beginnen können, aber kein Wahlrecht haben. Daran müssen wir auch heran. Aber jetzt helfen Sie uns erst einmal, das Wahlrecht zugunsten Behinderter und sogenannter Ausländer, die schon jahrelang mit uns zusammenleben, zu verändern. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.