Reden

Neue Erkenntnisse im NSU-Untersuchungsausschuss

Rede von Hermann Schaus am 27. September 2017

Weiterer Redebeitrag von Hermann Schaus

– Es gilt das gesprochene Wort –

Herr Präsident / Frau Präsidentin,

meine sehr geehrte Damen und Herren,

in seiner letzten Ausschusssitzung hat der NSU – Untersuchungsausschuss eine weitere wichtige Erkenntnis gewonnen: Die Neonazistin Corrynna Görtz war in den Monaten vor dem NSU-Mord an Halit Yozgat mehrfach in dessen Internetcafé, der zum Tatort wurde.

Das ausgerechnet diese Frau mehrfach am Tatort war, wirft viele Fragen auf: Es ist nämlich eine bis heute völlig ungeklärte Frage, wie der NSU seine Opfer und Tatorte auswählte.

Klar ist: Das Internet-Café beim NSU-Mord in Kassel wurde ausgespäht. Denn beim NSU wurden Skizzen und Stadtpläne mit Zielen gefunden. Aber ausgespäht von wem und warum?

Auch im NSU-Ausschuss des Bundestags gingen alle Parteien davon aus, dass der NSU Helfer vor Ort hatte.

Frau Görtz ist im thüringischen Bad Frankenhausen aufgewachsen, dem Ort, an dem Uwe Mundlos seinen Wehrdienst ableistete. Sie war Teil der rechtsradikalen und militanten Szene. Sie wurde 1994 in einer polizeilichen Bildermappe rechtsextremer Gewalttäter als einzige Frau neben Beate Zschäpe aufgeführt.

Von Thüringen ging sie nach Detmold, wo sie im Schulungszentrum der Nationalistischen Front von Meinolf Schönborn lebte – Schönborn war dadurch bekannt, dass er in den 90er Jahren paramilitärische „Nationale Einsatzkommandos“ aufbauen wollte.

Von NRW führte ihr Weg nach Kassel, wo sie sich in der FAP engagierte, die ebenso wie die Nationalistische Front als Naziorganisationen zurecht verboten wurde. Ihr Freundeskreis liest sich wie das who is who der rechtsterroristischen Szene der späten 90er und 00er Jahre.

Regelmäßig war sie bei dem niedersächsischen Neonazi Thorsten Heise zu Gast. Den Neonazi Kay Diesner, der 1997 mit einer Pumpgun einen Anschlag auf einen linken Buchhändler verübte und auf der Flucht einen Polizisten erschoss, kannte sie auch persönlich.

Während ihrer Haftzeit hatte sie Briefkontakt mit Martin Wiese, der wegen eines geplanten Anschlags auf das jüdische Zentrum in München und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in Haft saß.

Sie hatte Kontakt ins rechtsradikale Blood and Honour Netzwerk und schließlich war sie auch bekannt mit Thomas Richter und Michael See, also die Top-Spitzel des Verfassungsschutz unter den Tarnnamen „VM Corelli“ und „VM Tarif“.

Die Akten dieser beiden V-Männer des BfV waren unter den Akten, die direkt nach der Selbstenttarnung des NSU vom Verfassungsschutz geschreddert wurden.

Dass diese Frau mit diesem Hintergrund als mögliche Mittäterin oder Mitwisserin des NSU in Frage kommt, war der Linken bewusst, sodass wir durch zahlreiche Beweisanträge (mit Unterstützung der SPD) alle verfügbaren Akten dieser Frau Görtz angefordert haben.

Doch die Akten von Frau Görtz wurden angeblich bereits im Jahr 2009 im Hessischen Verfassungsschutz vernichtet. Das ist absolut nicht nachvollziehbar!

Akten dürfen im LfV vernichtet werden, wenn entweder die Person zu Unrecht überhaupt erfasst wurde, also gar keine Rechtsextremistin ist, oder seit zehn Jahren nicht mehr Rechtsextrem aktiv ist. Beides ist bei Frau Görtz definitiv nicht der Fall!

Auch in dem Jahr, in dem ihre Akten angeblich vernichtet wurden, taucht sie in polizeilichen Akten als Ansprechpartnerin bei massiv gewalttätigen Ausschreitungen während eines Nazikonzerts auf. Wieso also wurden diese Akten dann geschreddert, fragen wir den hessischen Verfassungsschutz?

Meine Damen und Herren, das ist der hessische Aktenvernichtungsskandal! Ich fordere deshalb von der Landesregierung, dass sie endlich eine stichhaltige Erklärung zur Vernichtung der Akten zu Frau Görtz abgibt!

Ein weiterer spannender Aspekt ist zudem, dass Frau Görtz während ihrer Vernehmung im Untersuchungsausschuss nicht sagen wollte, ob sie für einen Geheimdienst gearbeitet hat oder Informationen geliefert hat. Sie hat sich dazu mehrmals auf ein nicht bestehenden Auskunftsverweigerungsrecht berufen.

Diese Sache stinkt zum Himmel und meine Fraktion wird weiter für schonungslose Aufklärung im NSU-Komplex kämpfen.

Vielleicht fragen sich einige Zuschauer auf der Besuchertribüne, warum wir dann nicht auch als Antragsteller mit den anderen Fraktionen im vorliegenden gemeinsamen Antrag stehen.

Leider wird es uns verwehrt, als Antragsteller in dieser Frage mit aufzutreten, weil laut Herrn Bellino die CDU niemals einen Antrag gemeinsam mit den Linken beschließen werde.

Diese demokratiefeindliche Einstellung der CDU ist beschämend, aber dass die anderen Fraktionen sich auf das Spiel einlassen ist zumindest bei diesem Thema extrem daneben.

Es ist DIE LINKE die von Anfang an diesen Ausschuss voran getrieben hat, während CDU. Grüne und FDP nicht mal für dessen Einsetzung waren und sich nicht gerade als Aufklärer hervortun.

Wir werden dem Antrag jedenfalls zustimmen, denn uns ist die Thematik zu wichtig für kleinkarierte parteipolitische Spielchen. Sie, Herr Bellino, sollten sich schämen, dass sie noch nicht mal bei der Aufklärung der Verbrechen von Nazi-Terror Ihre parteipolitische Verbohrtheit aufgeben können.

(Im Übrigen darf ich sie daran erinnern, dass es schon Themen gibt, bei dem die CDU liebend gern einen Antrag gemeinsam mit uns Linken machen wollte. Wenn es um Diätenerhöhung geht, dann sind wir selbst Herrn Bellino und der CDU gut genug für einen gemeinsamen Antrag! Aber bei diesem Punkt sind wir halt anderer Meinung.)

Dies passt aber zum ganzen Umgang der CDU mit diesem Ausschuss. Schon in der Einsetzungsdebatte 2014 haben Sie gesagt, dass Sie nicht erwarten, dass der Untersuchungsausschuss irgendwelche neuen Erkenntnisse herausfinden kann.

Nach dieser Maxime haben Sie und Ihre Fraktion sich auch die letzten drei Jahre verhalten – mit keinem einzigen Beweisantrag haben Sie Akten angefordert, Ihre Zeugenbefragungen führen Sie erkennbar für alle, als ob sie der Anwalt von Herrn Temme sind und durch Ihre ständigen Pöbeleien versuchen Sie, Herr Bellino den Ausschuss in der Öffentlichkeit lächerlich zu machen.

Ich zitiere aus Ihrer Presseerklärung zur Sitzung des NSU-Ausschusses, versendet am 15.9. um 16:22, zu einer Zeit, also wo die Vernehmung der Zeugin Görtz noch im vollen Gange war:

„Neue Erkenntnisse haben wir durch die Befragung nicht gewonnen. Schlimmer noch, neben der Verschwendung wertvoller Ausschusszeit hat sie insbesondere die Obleute von SPD und Linke versucht systematisch in die Irre zu führen. Dadurch wurde Verfassungsfeinden nicht nur erneut, sondern in besonderer Weise eine mediale Plattform geboten.“

Herr Bellino – was ist das eigentlich für ein respektloser Umgang mit all denjenigen, denen die Aufklärung der NSU-Verbrechen am Herzen liegt, wenn Sie die Erlangung von Erkenntnissen schon vor dem Ende von Zeugenvernehmungen mit Ihren vorgefertigten Textbausteinen immer wieder leugnen?

Was ist das für ein respektloser Umgang mit dem Parlament, einen Untersuchungsausschuss nicht zur Mitarbeit sondern vorrangig zur Beschimpfung der Opposition zu missbrauchen?

Auch diese immer wieder von Ihnen vorgebrachte Unterstellung, – ausgerechnet wir, die Linken – würden im Ausschuss grundlos Nazis eine Bühne geben, sollte sich mit der Vernehmung von Frau Görtz jetzt wohl erledigt haben.

Auch uns macht es keinen Spaß, Nazi-Zeugen zu befragen. Es ist aber leider notwendig, wenn es um Hintermänner und –frauen des NSU geht, wenn es darum geht, mit welchen dieser Neonazis der Verfassungsschutz zusammengearbeitet hat.

Insbesondere vor dem Hintergrund, dass im NSU Prozess in München der Beweisauftrag sehr eng aufgefasst wird und Beweisanträge zum Beleuchten der rechten Strukturen in den Tatortstädten reihenweise abgelehnt wurden, muss es doch gerade die Aufgabe dieses Ausschusses sein, diese Szenen zu beleuchten und die Hintermänner und –frauen aus der Deckung zu holen.

Gerade die erheblichen Erinnerungslücken einiger Beamten, insbesondere vom sogenannten Verfassungsschutz und dessen fehlenden und fehlerhaften Akten machen es doch erst erforderlich, dass wir im Ausschuss Personen wie Frau Görtz vernehmen!

Und weil CDU und auch Grüne immer wieder behaupten, der Ausschuss habe keine oder kaum Erkenntnisse gewonnen, möchte ich Ihnen aufzeigen, dass es neben der Erkenntnis aus der letzten Vernehmung sehr wohl noch zahlreiche weitere Erkenntnisse gegeben hat:

  1. bezüglich der rechten Szene:
Neben zahlreichen Einzelerkenntnissen zu Strukturen und Personen, lässt sich festhalten, dass das LfV und die Politik die rechte Szene in Hessen jahrelang völlig falsch eingeschätzt haben bzw. die Gefahr von rechts in der Öffentlichkeit falsch dargestellt haben.

Gerade im Raum Kassel gab es eine große, militante Naziszene, die bundesweit und sogar international vernetzt war und noch ist, die über finanzielle Mittel sowie Waffen verfügt.

  1. bezüglich des LfV:
Der Untersuchungsausschuss ist die umfassendste und transparenteste Untersuchung von Vorgängen im LfV, die es in Hessen je gegeben hat und schon deswegen ist er ein Erfolg! Im Ausschuss wurde deutlich, wohin es führt, wenn eine Behörde unkontrolliert arbeiten kann, unter Einsatz empfindlicher Eingriffe in Grundrechte.

Selbst das LfV musste in einer internen Untersuchung u.a. feststellen, dass der Zustand des LfV miserabel war: Es stellte fest, dass die damaligen Akten in desaströsem Zustand waren und der Verbleib von 541 Aktenstücken nicht geklärt werden konnte, außerdem seien auffällige Aussagen wie „nationaler Untergrund“ nicht dokumentiert worden und interessanten Hinweisen, beispielsweise auf Waffen- und Sprengstoffbesitz bei Neonazis, sei nicht nachgegangen worden.

Dass das LfV diesen Bericht aber gleich für die nächsten 120 Jahre als geheim einstufte, zeigt, wie brisant diese Versäumnisse sind.

  1. Bezüglich der Vorgänge im Innenministerium:
den  besonders fürsorglichen Umgang des Innenministeriums mit dem seinerzeit Tatverdächtigen Verfassungsschutzbeamten Temme konnten wir in weiten Teilen rekonstruieren – eine ausführliche Darstellung würde hier zu weit führen.

Festzustellen ist aber dass von Seiten des Innenministeriums lange versucht wurde gegenüber dem Parlament zu vertuschen, dass ein Verfassungsschützer unter Mordverdacht stand,

dass das Innenministerium aktiv daran beteiligt war, dass gegen den Beamten nicht  wirklich disziplinarrechtlich vorgegangen wurde

und dass die Abwägungsentscheidung zwischen Quellenschutz und den Mordermittlungen von Herrn Bouffier pauschal für alle Quellen entschieden wurde, statt im Einzelfall.

  1. bezüglich der Tatsache, dass Temme zur Tatzeit im Internetcafé gewesen ist:
Hier konnten wir einiges herausfinden, beispielsweise, dass Herr Temme dienstlich mit der Mordserie befasst war und dass er diesbezüglich den Untersuchungsausschuss angelogen hat. Auch hat er seine Kollegin bezüglich des Mordes angelogen und offenbar falsche Treffberichte angefertigt.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Herr Temme zumindest den Toten gesehen haben muss – aber belegen können wir es leider nicht. Es bleibt nach wie vor unklar, wie es war, klar ist nur, dass Temmes Version der Geschichte nicht stimmt, das sagen auch alle Experten.

  1. Es wird nach unserer Strafanzeige wegen Falschaussage gegen Herrn Temme ermittelt,
gegen zwei Neonazis stehen Ermittlungen mindestens im Raum – auch das sind Ergebnisse dieses Ausschusses.

Und der Ausschuss ist noch nicht am Ende.

Wir kriegen ja weiterhin Akten. Viele relevante Akten sind erst nach Jahren hier angekommen.

Viele Fragen sind noch offen.
  • Nach wie vor sind Hintermänner und –frauen des NSU unbekannt.
  • Nach wie vor ist unklar, wie der NSU seine Opfer auswählte.
  • Nach wie vor ist die Rolle des „Verfassungsschutz“ bzw. seiner V-Personen nebulös.
Es ist wichtig, dass es nun eine neue Spur gibt, der nachgegangen werden muss.

Zahlreiche Untersuchungsausschüsse sind beendet, das Verfahren in München neigt sich dem Ende und auch der hessische NSU-Ausschuss wird bald seine letzten Zeugenvernehmungen haben.

Es ist aber wichtig, dass der Fall NSU nicht zu den Akten gelegt wird. Das sind wir den Opfern schuldig. Das sind wir aber auch uns selber und der gesamten Gesellschaft schuldig.

Viele Initiativen, die um Aufklärung zum Thema NSU bemüht sind, erklärten jüngst in einem Aufruf: „Kein Schlussstrich! NSU-Komplex aufklären und auflösen.“ Dieser Forderung schließe ich mich an. 

Und ich sage auch: In einer Zeit in der leider wieder Nazis im Deutschen Bundestag sitzen und in der massenhaft rechte Straf- und Gewalttaten begangen werden, ist es umso nötiger, gesellschaftspolitischen Widerstand zu leisten und auf ein konsequentes Vorgehen der Behörden zu insistieren.

Dass Behörden in Hessen wie in Deutschland dies beim NSU nicht taten und scheinbar oftmals auch nicht tun wollten, darf weder so stehen bleiben, noch jemals wieder passieren!