Barbara Cárdenas
hat zum 31.10 2016 Ihr Mandat im Hessischen Landtag aus persönlichen Gründen niedergelegt.
Die Fraktion dankt Ihr für Ihren mehr als achtjährigen parlamentarischen Einsatz.
Reden
Es gibt keine richtige Bildungspolitik im falschen Schulsystem.
- unkorrigiertes Redmanuskript, es gilt das gesprochene Wort -
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren!
Herr Kultusminister Lorz, dies ist schon Ihre zweite Regierungserklärung innerhalb weniger Monate. Dass Sie diese genutzt haben, um zweifelfrei wichtige Gedenktage in aller Breite aufzulisten und über vier Seiten hinweg betonen, wie wichtig das Erinnern und der Frieden ist, lässt mich jedoch stutzen. Ich habe das Gefühl, andere Prioritäten setzen zu müssen und werde in meiner Rede daher auf die bildungspolitischen Themen eingehen, die in Hessen akut sind und die nach schnellen Lösungen schreien.
Herr Kultusminister, sicherlich hätten Sie sich gewünscht, mit tatsächlichen Erfolgsmeldungen in die zweite Runde gehen zu können. Diese bleiben bislang aber aus. Daran ändert auch die einzig positive Neuigkeit nichts: Entgegen aller Erwartungen gibt es nicht weniger Schülerinnen und Schüler in Hessen. Trotz des Geburtenrückgangs ist deren Zahl gleich geblieben. Herr Lorz, das können Sie sich aber vermutlich nicht auf Ihre Fahne schreiben.
Was Sie sich allerdings auf die Fahne schreiben dürfen, ist die Einberufung des Bildungsgipfels, der letzte Woche Mittwoch zum ersten Mal getagt hat. Ihre erste Regierungserklärung trug den Titel:
Für eine Politik der ausgestreckten Hand – Hessens Bildungsgipfel für den Schulfrieden
Dieser Titel veranlasste mich damals, Befürchtungen dahingehend zu äußern, dass das hessische Bildungswesen an Ihrem ausgestreckten Arm verhungern könnte. Diese Befürchtungen teilten anscheinend viele. Dementsprechend waren schon im Vorfeld die Befürchtungen sehr groß, dass es sich bei diesem Bildungsgipfel lediglich um eine Showveranstaltung handeln könnte. Zu Recht, würde ich sagen, wenn Sie mich fragen.
Wir haben im Landtag als parlamentarisch legitimiertes Gremium die Enquetekommission Bildung einberufen. Diese Kommission wird sicherlich die nächsten zwei bis drei Jahre beschäftigt sein. Sie bietet Sachverständigen und Beteiligten eine sinnvolle Plattform für einen ausgewogenen Dialog. Was also soll dieser Bildungsgipfel?
Zur ersten Sitzung sind vor allem die Fraktionsvorsitzenden geladen worden. Im Vorfeld gab es keine Absprachen.
Wir haben unsere Erfahrungen mit Gipfeltreffen bereits beim Energiegipfel sammeln dürfen, der vor allem eines war: Er war ein Beschäftigungsprogramm für Abgeordnete und die Vertreter der beteiligten Institutionen. Herr Minister Lorz,
Wenn ich mir die Überschrift der Pressemitteilung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von letztem Mittwoch anschaue, wird mir der wirkliche Charakter des Bildungsgipfels schnell klar. In der Überschrift titulierten die GRÜNEN:
Bildungsgipfel für Schulfrieden – ein grünes Konzept wird Wirklichkeit.
Einmal davon abgesehen, dass die grüne Schulpolitik maßgeblich mit daran beteiligt ist, dass in Hessen alles andere als Schulfrieden herrscht, ist ein solcher Titel wieder einmal Augenwischerei. Außerdem ist es mehr als befremdlich, dass die Pressemitteilung mit den Worten eingeläutet wird:
„Erstmalig in Hessen werden zu Beginn einer Legislaturperiode alle bildungspolitischen Akteure und alle Fraktionen im Landtag gefragt, wie sich die Schulen in unserem Land entwickeln sollen. …“
Herr Minister, die Antwort steht doch schon fest. Die Zielvorgaben, die zeigen, wie sich die Schulen entwickeln sollen, sind im Koalitionsvertrag festgelegt. Das haben Sie während der ersten Sitzung des Bildungsgipfels doch auch zugegeben. Also handelt es sich vermutlich wieder einmal um Augenwischerei, um viel Lärm um nichts oder um ein Beschäftigungsprogramm.
Deshalb sage ich es noch einmal: Das parlamentarisch legitimiertes Gremium ist die Enquetekommission Bildung und nicht der Bildungsgipfel.
Die Enquetekommission hat ihre Arbeit längst ernsthaft aufgenommen. Zwar arbeitet sie stiller und verzichtet auf Showeffekte, dafür legt sie aber größten Wert auf Dialog, auf eine wissenschaftliche Fundierung und auf gute Resultate, sprich: Handlungsempfehlungen an die Landesregierung.
Der Bildungsgipfel scheint vor allem ein Ziel zu haben: Er soll den schwarz-grünen Koalitionsvertrag rechtfertigen, und er soll von anderen gelobt werden. Da nützt auch die Einrichtung von fünf Arbeitsgruppen nichts, die Teil Ihres Beschäftigungsprogramms sind. Es ist völlig unverständlich, warum dem Vorschlag unserer Fraktionsvorsitzenden, Frau Wissler, nicht zugestimmt wurde, den Bildungsgipfel nach Beendigung der Arbeit der Enquetekommission einzuberufen, um mit seiner Hilfe dann die Ergebnisse der Enquetekommission umzusetzen.
Aber das soll es von meiner Seite aus auch zum Thema Bildungsgipfel gewesen sein, denn ich möchte diese potentielle Alibiveranstaltung nicht noch unnötig aufwerten. Nun trägt Ihre zweite Regierungserklärung den schönen Titel:
Aus Verantwortung für unsere Kinder und unser Land – Verlässlichkeit, Chancengleichheit und Werteorientierung gewährleisten
Einmal davon abgesehen, dass ich von Ihnen gerne definiert hätte, an welchen Werten sich unsere Kinder orientieren sollen und wer diese wie vermitteln soll, wissen Sie doch ganz genau, dass mit Ihrer Schulpolitik weder Chancengleichheit hergestellt wird noch Verlässlichkeit für Schülerinnen und Schüler, deren Eltern und die Lehrerschaft geschaffen wird. Herr Kultusminister, schauen Sie sich doch nur das Chaos um das Praxissemester an. Da werden die beteiligten Hochschulen genauso wie die beteiligten Schulen alleine gelassen.
Sie wissen es: In der Anhörung zu diesem Gesetzentwurf hat es massive Kritik an diesem Vorhaben gegeben. Die gab es nicht, weil der Grundgedanke falsch ist, schon früher im Studium Praxisnähe herzustellen, sondern weil die geplante Ausgestaltung nicht nur undurchdacht, sondern sogar kontraproduktiv ist. Das früh gesetzte Praxissemester soll in den meisten Fällen die späteren Praxisanteile ablösen, was, gelinde gesagt, fahrlässig ist. Es ist völlig unverständlich, warum kein Moratorium eingeführt werden soll, wie die Kolleginnen und Kollegen der SPD, von denen jetzt nur noch sehr wenige da sind, einfordern.
Aus den Erfahrungen aus G 8, das auch gegen alle Widerstände der Experten und Beteiligten eingeführt wurde, hätten Sie doch lernen und die Gefahr erkennen können, dass ein solches Vorgehen richtig schieflaufen kann. Die berechtigten Fragen mancher Institutionen, von denen regelmäßig Stellungsnahmen erbeten werden, hätten Ihnen schon längst zu denken geben sollen. Die Frage lautet: Welchen Stellenwert hat eine Anhörung im Hessischen Landtag überhaupt noch?
Das Theater um die Rücknahme von G 8 hat uns in den letzten zwei Jahren intensiv beschäftigt. Alles, was die Landesregierung dazu anbietet, ist erbärmliche Flickschusterei. Eine zufriedenstellende Lösung wird sich auch so lange nicht mehr finden lassen, bis sämtliche G-8-Jahrgänge ausgelaufen sind und G 9 wieder flächendeckend eingeführt worden ist.
Meine Frage lautet nun: Wollen Sie den hessischen Lehramtsstudierenden wirklich mit der völlig überstürzten und undurchdachten Einführung dieses Praxissemesters deren eigenes G 8 bescheren? Herr Kultusminister, Sie würden damit niemandem einen Gefallen tun, auch sich selbst nicht.
Ich komme nun zum Thema Schulfrieden, das mittlerweile unweigerlich mit dem Chaos um G 8 und G 9 verbunden ist. Das Wort Schulfrieden hat der kleine Koalitionspartner ins Land hinaus gebrüllt. Was genau Schulfrieden bedeuten soll, hat bislang aber noch keiner erklärt. Es ist auch nicht so, als würde in Hessen ein Schulkrieg herrschen. Herr Wagner, oder ist es so? Geht man davon aus, dass Sie damit sagen wollten, es solle Ruhe und Verlässlichkeit an die Schulen gebracht und eine hohe Zufriedenheit bei allen Beteiligten, also den Lehrerinnen und Lehrern, den Schülerinnen und Schülern sowie deren Eltern, erreicht werden, dann kann ich Ihnen hiermit bescheinigen, dass dieses Vorhaben kläglich gescheitert ist.
Bleiben wir noch kurz bei G 8. Das Märchen von der Wahlfreiheit glauben Sie wahrscheinlich selbst nicht mehr. Wenigstens hört man diesen Begriff kaum noch von Ihnen. Jedenfalls hört man ihn nicht mehr in jedem zweiten Satz, wie es vorher der Fall war. Von den 75 Jahrgängen, bei denen eine anonyme Elternbefragung durchgeführt wurde, können nicht einmal 50 %, also nicht einmal die Hälfte, zu G 9 zurückkehren. Bei der andere Hälfte ist das teilweise an einer einzigen Gegenstimme gescheitert. Das bedeutet, dass etwa 40 Jahrgänge gezwungen sind, bei G 8 zu bleiben. Nun erklären Sie mir bitte, welche Wahlmöglichkeit Sie den betroffenen Schülerinnen und Schülern und deren Eltern schaffen.
Ich sage es noch einmal: Wäre G 8 nicht entgegen aller Kritik der Experten und der Betroffenen und entgegen dem massiven Elternwillen eingeführt worden, stünden Sie jetzt nicht vor so einem großen Problem. Dieses unsinnige Projekt ist gescheitert. Es wäre an der Zeit, so viel Courage zu besitzen, dies auch zuzugeben. Herr Kultusminister, wenigstens das wären Sie den Schülerinnen und Schülern und deren Eltern schuldig.
Dann möchte ich auf ein Thema zu sprechen kommen, das mir selbst sehr am Herzen liegt. Wenn über Chancengerechtigkeit gesprochen wird – das ist in den letzten Tagen in der Tat der Fall –, dann kommt man nicht darum herum, einen Blick auf die sogenannte Durchlässigkeit des hessischen Schulsystems zu werfen. Durchlässigkeit bedeutet, hürdenlos von dem einen Bildungsgang in den anderen wechseln zu können.
Meine Damen und Herren, an dieser Stelle müssten bei Ihnen die Alarmglocken schrillen, denn durchlässig ist dieses Schulsystem nur in eine Richtung: von oben nach unten. Auf einen Aufstieg in eine höhere Schulform kommen in Hessen mittlerweile 9,2 Abstiege. Der Bundesdurchschnitt – auch viel zu hoch – liegt immerhin bei 4,2. Und warum müssten bei Ihnen die Alarmglocken noch schrillen? Weil sich diese Zahl in Hessen von Jahr zu Jahr erhöht.
Herr Minister, ich weiß: Mit G 8 hat das sicher nichts zu tun. G 8 hat natürlich auch nichts mit dem Boom der Nachhilfeinstitute zu tun. Viele Absteiger können sich deren Besuch nicht leisten, das wissen wir. Können Sie bitte erklären, wie Sie hohe Verlässlichkeit und Zufriedenheit an die Schulen bringen wollen, angesichts solcher Fakten?
Herr Minister, vor zwei Wochen haben Sie eine Pressekonferenz zum jetzigen Schulanfang gegeben. Es ist verständlich, dass Sie diese Tradition des Selbstbeweihräucherns beibehalten möchten. Ich muss Ihnen aber ganz ehrlich sagen: Ich war aufrichtig empört, als ich Ihr Pressestatement wahrgenommen habe. Da steht doch tatsächlich: „Neues Kapitel im Bereich der Ganztagsschulen: Der Pakt für den Nachmittag“. Dieser Versuch der Täuschung ist eine bodenlose Unverschämtheit. Der Pakt für den Nachmittag hat nichts, aber auch rein gar nichts mit echten Ganztagsschulen zu tun. Ganz im Gegenteil: Hier wird versucht, die Verantwortung für den dringend notwendigen Ausbau echter Ganztagsschulen – ich rede hier von echten Ganztagsschulen, nicht von Schulen, die dreimal in der Woche ein betreutes Mittagessen anbieten – den Kommunen zu überlassen. Die Kommunen sollen ein Pseudoprogramm etablieren. Hinzu kommt: Ganz entscheidende Fragen bleiben offen.
Erstens. Wie soll die Kooperation zwischen Lehrerinnen und Lehrern und Sozialpädagoginnen und -pädagogen oder Erzieherinnen und Erziehern stattfinden? Wer ist also von wann bis wann in welcher Form verantwortlich? Werden Lehrkräfte überhaupt nachmittags verantwortlich sein? Zunächst ist ja davon auszugehen – wenn hier auch nur annähernd eine Anlehnung an das Konzept der Ganztagsschulen stattfinden soll.
Zweitens. Was passiert in den Ferien? Gibt es während der Ferien auch, wie in den üblichen Schulzeiten, eine Betreuung? Wenn ja: Durch wen? Und: Durch wen finanziert?
Drittens. Welches pädagogische Konzept soll hier dahinterstecken? Wer erarbeitet, wer evaluiert es? In welcher Weise ist der Ganztagsschulverband einbezogen?
Viertens. Werden Sport- und Kunstvereine mit einbezogen?
Fünftens. Was passiert in den Kommunen, die sich die Kostenübernahme auch anteilig und mit hohen Elternbeiträgen nicht werden leisten können? In diesen Kommunen werden dann die Eltern mit ihren Betreuungsproblemen wieder ganz alleine gelassen werden.
Wichtig ist auch noch eine ganz entscheidende Frage: Wie soll eine gerechte Elterngeldregelung gefunden werden? In den letzten Tagen ist die immense Gebührenspanne bei der U-3-Betreuung bekannt geworden, von 0 € bis zu über 800 € im Monat.
Soll das bei Ihrem Pakt für den Nachmittag genauso werden? Denn es wird einiges kosten, und es ist ganz klar, wer am Ende diese Kosten nach Ihrer Ansicht tragen soll: natürlich die Eltern.
Das ist einer der großen Unterschiede zwischen diesem Pakt für den Nachmittag und echten Ganztagsschulen. Dort ist der Schulbesuch für die Eltern gebührenfrei – beim Pakt für den Nachmittag sollen sie dafür bezahlen. Das ist nicht hinnehmbar. Daher sage ich Ihnen: Dieser Pakt ist unverschämt. Statt wirklich dafür zu sorgen, dass es in Hessen die dringend notwendigen Ganztagsschulen, insbesondere im Grundschulbereich, gibt, präsentieren Sie hier diese Mogelpackung. Und warum? Um ja kein Geld in den Ganztagsausbau stecken zu müssen und um die Verantwortung für die Stagnation auch noch den Kommunen zuschustern zu können. Herr Kultusminister, das kann es doch wohl nicht sein!
Stellen Sie sich Ihrer Verantwortung. Sorgen Sie endlich dafür, dass flächendeckend und natürlich ganztägig arbeitende und unterrichtende Schulen geschaffen werden. In Bildung muss investiert werden. Das ist nun einmal so.
Aber auch in anderen Bereichen krankt Ihre Selbstbeweihräucherung an Realitätsgehalt. Schauen wir uns doch einmal die Lehrer-Schüler-Relation an. Sie brüsten sich damit, dass diese in Hessen auf einem Rekordniveau liege. Dass sie trotzdem noch weit unter dem Bundesdurchschnitt liegt – und dies schon traditionell –, vergessen Sie dabei.
Herr Kultusminister, davon abgesehen ist eine Verbesserung der Lehrer-Schüler-Relation gar nicht Ihr Verdienst. Das ist schlicht das Ergebnis der sinkenden Schülerzahlen. Im Übrigen verhält es sich so auch mit den kleiner werdenden Klassen, die Sie im Koalitionsvertrag als Ziel festgelegt haben. Die Klassen werden zwangsläufig kleiner, wenn weniger Schülerinnen und Schüler zur Schule gehen. Interessant wird es jedoch, wenn der Rückgang so stark wird, dass sich die Frage der Klassenteilung stellt. Herr Irmer, wie Sie sich dann verhalten werden, das würde mich schon jetzt wirklich interessieren.
Bleiben wir bei kleinen Klassen, oder werden diese aufgeteilt, und plötzlich haben wir wieder 30 Kinder in einer zusammengelegten Klasse sitzen?
Herr Kultusminister, wenn man Ihrer Regierungserklärung zuhört, fragt man sich, ob Sie tatsächlich über die hessische Schullandschaft berichten. Sie wollen uns weismachen, alles sei toll – jeder Schüler sei zufrieden, jede Lehrkraft unterrichte unter den besten Bedingungen.
Die Wirklichkeit aber schaut ganz anders aus. Sie haben den Hilferuf der Darmstädter Lehrerinnen und Lehrer erhalten. Solche Hilferufe muss man ernst nehmen. Ein besserwisserischer Verweis auf den Sozialindex, der nicht mehr ist als ein Tropfen auf den heißen Stein, nützt da gar nichts. Das wissen Sie auch. Die Arbeitsbedingungen von Lehrerinnen und Lehrern verschlechtern sich seit Jahren. Nicht nur, dass die verbeamteten Lehrerinnen und Lehrer in Hessen mit 42 Wochenstunden die höchste Arbeitszeit haben – nein, im Bundesvergleich sind auch die Deputatsstunden mit am höchsten. Bedenkt man, dass 2015 noch eine tarifliche Nullrunde hinzukommen soll, dass immer mehr bürokratische Anforderungen an die Lehrerinnen und Lehrer gestellt werden, dass es viel zu wenige Fortbildungsmöglichkeiten für viel zu viele neue Anforderungen gibt, dann ist ein solches Bild einer blühenden Schullandschaft wie ein Schlag ins Gesicht. Statt die Nöte und Sorgen unserer sehr engagierten Lehrerinnen und Lehrer ernst zu nehmen, lächeln Sie sie einfach weg.
Des Weiteren gibt es viele konkrete Fälle, an denen klar wird, dass es an allen Ecken und Enden krankt. Ich will gar nicht auf die vielen maroden Schuldgebäude, auf die unbenutzbaren Toiletten und auf nicht begehbare Sporthallen eingehen. Auch diese Verantwortung schieben Sie hier von sich und geben sie an die Kommunen. Aber hier muss einmal ganz klar gesagt werden: Sie sind Kultusminister des Landes Hessen, und diese Zustände haben Sie zumindest zu interessieren, und vielleicht haben Sie auch Änderungsvorschläge dazu vorzulegen.
Wofür Sie aber auf jeden Fall in letzter Instanz zuständig sind, das ist der Schülertransport, und das sind die Schulwege. Auf diesen Punkt möchte ich jetzt nochmals eingehen.
Mit Sicherheit haben Sie die Aufregung im Wetteraukreis zur Kenntnis genommen. Dort sind, völlig ohne Erklärung, plötzlich Schulwege, die als gefährlich galten, als ungefährlich eingestuft worden. Niemand weiß, warum. Weder wurden diese Wege saniert, noch wurden sie sonst wie fußgängerfreundlich gestaltet. Aber plötzlich soll kleinen Kindern zugemutet werden, 2 km zu Fuß zur Schule zu gehen. Zu Recht haben sich Eltern über dieses Vorgehen empört. Es wurden Unterschriften gesammelt, und es wurden Widersprüche formuliert. Und was geschieht? Statt in den Dialog zu treten, werden diese Eltern damit erpresst, dass sie 150 € zahlen sollen, damit man sich überhaupt mit ihrem Widerspruch auseinandersetzt. Das ist eine Unverschämtheit – vor allem, wenn man bedenkt, worum es hier überhaupt geht: nämlich um die Sicherheit von Grundschulkindern.
Aber nicht, dass damit die Grenzen der Willkür erreicht seien. Nein, plötzlich erhalten nicht nur die Eltern, die förmlich Widerspruch eingelegt haben, eine solche Zahlungsaufforderung, sondern auch diejenigen, die auf einer Unterschriftenliste unterschrieben haben, die sich für die Wiedereinstufung dieser Schulwege als gefährlich einsetzen.
Herr Kultusminister Lorz, Sie wollen Werteorientierung. Ein solches Vorgehen, wie ich es gerade beschrieben habe, ist bar jeder Moral. Zu Beginn der Sommerferien haben wir eine Kleine Anfrage eingebracht, die diese Vorgänge im Wetteraukreis hinterfragt. Auf Ihre Antwort bin ich sehr gespannt.
Im Übrigen hätte diese Antwort schon vor einer Woche vorliegen sollen, denn wir haben unsere Anfrage am 4. August eingebracht. Ich hoffe, die Verspätung ist ein Zeichen dafür, dass sich das Kultusministerium mit dieser Angelegenheit sehr intensiv auseinandersetzt. Übrigens ist die Schülerbeförderung ein Thema, das uns nun schon seit langer Zeit begleitet. In Ihrem Wahlprogramm haben die GRÜNEN ein Schülerticket für alle Schülerinnen und Schüler gefordert. Tatsächlich wäre es eine sinnvolle Aufgabe für einen neuen Kultusminister, sich dieser Problematik ernsthaft anzunehmen.
Schülerbeförderung muss von der 1. bis zur Abschlussklasse gebührenfrei für die Betroffenen sein; das ist jedenfalls unsere Meinung. Es ist völlig unverständlich, wie die Beförderung zur Bildungsstätte von der Lernmittelfreiheit ausgenommen werden kann – jedenfalls wenn man tatsächliche Lernmittelfreiheit garantieren möchte, was hier in Hessen nicht der Fall ist.
Lassen Sie mich am Schluss noch auf einen Punkt eingehen. Das Thema Inklusion liegt meiner Fraktion und auch mir persönlich wirklich sehr am Herzen. Seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention sind zwar viele Hoffnungen entstanden – geschehen ist hier in Hessen leider so gut wie nichts, und zum Teil ist das Rad sogar zurückgedreht worden. Hier in Hessen herrscht allgemein der Eindruck, die Landesregierung, egal ob unter Schwarz-Gelb oder Schwarz-Grün, versuche das Thema Inklusion einfach auszusitzen.
Solange die Inklusion behinderter Schülerinnen und Schüler unter einem Ressourcenvorbehalt steht, wird in Hessen kein inklusives Schulsystem entstehen können. Da nützen auch Ihre Modellregionen nichts, Herr Kultusminister, vor allem nicht, wenn Sie in den Modellregionen einen Wettbewerb schüren, wessen Schule am Ende nicht geschlossen werden muss. Das Gegeneinander-Ausspielen von Schulen in einer Modellregion ist sicherlich kein Lösungsansatz. Sie haben Recht, Inklusion ist ein Prozess, und zwar einer, bei dem alle Beteiligten, vor allem die Betroffenen, mit einbezogen werden müssen. Doch es kommt vor allem auf den politischen Willen an, und der ist hier ganz einfach nicht zu erkennen, auch bei Ihnen nicht, Herr Minister Lorz.
Die allgemeinen Schulen müssen endlich bedarfsgerecht ausgestattet werden, es muss genügend Personal zur Verfügung stehen, die Ressourcen der Förderschulen müssen an die Regelschulen gehen, und Fort- und Weiterbildung muss allen Lehrerinnen und Lehrern angeboten werden. Nur dann kann Inklusion wirklich gelingen.
Nehmen Sie Ihren Auftrag aus der UN-Behindertenrechtskonvention endlich ernst, und handeln Sie. Nur so kann garantiert werden, dass kein Kind außen vor gelassen wird. Mein Kollege Degen hat hier schon sehr ausführlich zum Thema Inklusion Stellung genommen. Ich kann mich vielen Punkten, die er gesagt hat, nur anschließen.
Wir meinen, genau beim Thema Inklusion könnten Sie Ihre Werteorientierung auf den Prüfstand stellen. Denn eine inklusive Schule und eine inklusive Gesellschaft brauchen und verlangen eine andere Werteorientierung, als sie in unserem bisher am Wert Leistung orientierten Schulsystem üblich ist. Werte wären hier Solidarität, Rücksichtnahme, gemeinsam Lernen, gemeinsam Leben, „Nichts über uns ohne uns“, Respekt, Gleichwertigkeit und vieles mehr, eben alles, was Aussonderung verhindert und ihr vorbeugt, gemeinsames Lernen aber voranbringt.
Ich hätte mir von Ihrer Regierungserklärung gewünscht, dass Sie einer solchen Neuorientierung von Werten den Weg ebnen. Stattdessen fassen Sie tief in die Mottenkiste und stellen hier und heute das Kollektiv gegen die individuelle Förderung. Da haben Sie Ihren Makarenko wohl nicht richtig gelesen. Oder, noch einmal angelehnt an Adorno: Es gibt keine richtige Bildungspolitik im falschen Schulsystem.
Herr Kultusminister, Sie haben noch einige Jahre Zeit, bis man über Ihre Bildungspolitik endgültig urteilt. Nutzen Sie sie. – Ich danke Ihnen.