Reden

Reformationsjubiläum 2017

Rede von Hermann Schaus am 27. September 2017

– Es gilt das gesprochene Wort –


Herr Präsident,

meine Damen und Herren,

Die Fraktionen von CDU und Bündnis 90/DIE GRÜNEN haben zum Reformationsjubiläum einen Entschließungsantrag eingebracht um die Bedeutung der Reformation vor 500 Jahren zu unterstreichen. Dazu gäbe es vieles zu sagen, viel mehr, als in diesem knappen Antrag zu lesen ist. In meiner Rede werde ich mich auf den Inhalt des Antrages beziehen bgcfg.

Niemand bezweifelt die herausragende Bedeutung der Reformation. Von der Reformation gingen in der Tat, zahlreiche Impulse aus, die bis heute ihre Auswirkungen zeigen. Auch das damalige Hessen war in diesen Prozess einbezogen. 

Doch bei aller Würdigung vermissen wir als LINKE den Hinweis auf den wohl entscheidendsten Impuls der Reformation, der bis heute anhält, aber immer mehr zurück- und abgebaut wird.

Es war keineswegs so, dass die Ausbildung der Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen ein Ergebnis der Reformation ist, wie im Antrag ausdrückt.

Im Gegenteil:

Die Reformation hat zwar die seinerzeitige Obrigkeit gestärkt, aber sie zugleich auch verpflichtet, für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen. Der Staat wurde nämlich zugleich in die Pflicht genommen, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen.

Wer die Reformation also würdigen will, kann dies nicht tun, ohne auf den Sozialstaat zu sprechen zu kommen!

Wer heute nicht nur oberflächliche Kenntnis über die Sozialpolitik in Europa hat, muss anerkennen, dass es gerade die skandinavischen Staaten sind, die über einen vorbildlichen Sozialstaat verfügen.

Woher kommt dieser ausgebaute Sozialstaat? Welche Quellen haben dazu beigetragen, das sich dort ein Sozialstaat ausgebildet hatte, der für jedermann vorbildliche soziale Reche bereithält, der vorbildlich in Sachen Bildung und sozialen Diensten ist?

Es waren die Impulse der Reformation Luthers. Dieses Erbe ist auch in Deutschland wirksam geworden. Der lutherische Obrigkeitsstaat war für Demokraten unerträglich, aber sozialpolitisch durchaus erfolgreich.

Es waren nämlich lutherische Politiker, welche die ersten Sozialstaatsgesetze verfasst haben. Sie waren es, die gegen die Konservativen die ersten Sozialgesetze in den Reichstag mit der Begründung einbrachten: 

Zitat: „Sozialgesetze sind Nächstenliebe in staatlicher Betätigung.“ Nachzulesen in „Praktisches Christentum“. Religiöse Kommunikation innerhalb der parlamentarischen Diskussion im Deutschen Bundestag um die Einführung der Sozialversicherung 1881-1889, Seite 258.

Genau das meint die frühere Ratsvorsitzende und jetzige Botschafterin für das Reformationsjubiläum Bischöfin Margot Käßmann, wenn sie sagte: „Es ist vor allem das späte Erbe Martin Luthers und der anderen Reformatoren, das sich im modernen Sozialstaat artikuliert.“ Nachzulesen in Margot Käßmann / Gerhard Wegner, Die Ursprünge des Sozialstaates in der Reformation, Seite 283.

Aus diesem Grund haben wir auch einen Änderungsantrag zum vorliegenden Entschließungsantrag von CDU und Grünen eingebracht in dem es heißt: Zitat

Der Landtag würdigt die Einflüsse der Reformation Luthers auf die Entwicklung des modernen Sozialstaates, der auf den Werten der Solidarität und Gerechtigkeit basieren soll. Luthers Rede von der Freiheit bedeutet sozialpolitisch gewendet: Eine freie Gesellschaft bedarf einer breiten sozialen Sicherung aller Lebensrisiken, sodass sich möglichst viele Menschen gemäß ihren Fähigkeiten entfalten können und frei von Not und Armut leben können.                                     

Diese wichtige Aussage sollte unserer Meinung nach als neuer Absatz 6 in den Entschließungsantrag mit aufgenommen werden. Nur dann halten wir ihn für zustimmungsfähig!

Einem modernen Sozialstaat, der auf den Werten von Solidarität und Gerechtigkeit basiert, stand jedoch das Handeln der Regierung Roland Koch diametral entgegen!

  • „Jeder, der arbeiten kann, soll auch vom Staat eine – gegebenenfalls subventionierte – Arbeitsmöglichkeit erhalten. [...]
  • Wer sich dennoch weigert zu arbeiten, muss mit empfindlichen Einschränkungen der staatlichen Leistungen rechnen. [...] oder
  • Jeder leistet etwas für die empfangene Hilfe“.
Das waren die Ansagen von Roland Koch, nachzulesen in einem Interview der FAZ vom 12.08.2001, mit der bezeichnenden Überschrift: „Faulenzer müssen aus dem System“

Hier zeigt sich, dass Hessens ehem. Ministerpräsident der Geburtshelfer dessen war, was später HARTZ IV genannt werden sollte.

Wir sagen hingegen: Das Leistung-Gegenleistung-Konzept hebelt soziale Rechte aus. Wer arm ist hat ein Recht auf Unterstützung und muss sich nicht in jede Arbeit um jeden Preis drängen lassen.

Das Anwachsen des Niedriglohnsektors und der vielen prekären Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland ist zutiefst unchristlich!

Die  sogenannte Operation „Sichere Zukunft“, die Agenda 2010 und Hartz IV haben den lutherisch geprägten Sozialstaat, wie er unser Sozialsystem geprägt hatte, tiefgreifend geschwächt. Und die Hessische Landesregierung hat insbesondere unter Roland Koch dazu entscheidend beigetragen.

In ihrem Sozialwort aus dem Jahr 1997 haben die Kirchen noch vor dem großen Angriff auf den Sozialstaat klar ihr Veto eingelegt und gewarnt: „Die Hinweise auf die Verhältnisse in den USA verkennen die unterschiedliche soziokulturelle Tradition und werfen Fragen der sozialen Gerechtigkeit auf“, heißt es dort in Ziff. 14.

Die damalige hessische Landesregierung unter Roland Koch hat genau das getan: Sie hat sich an den Verhältnissen in den USA, insbesondere im Staat Wisconsin, orientiert.

Die Sozialsysteme der USA sind aber für uns kein nachahmenswertes Beispiel. Die Operation „Sichere Zukunft“ vom Herbst 2004 war das größte Sparprogramm in der Geschichte des Bundeslandes Hessen.

Es war ein sozialer Kahlschlag, den Bündnis 90/DIE GRÜNEN damals zurecht noch eine „Operation düstere Zukunft“ nannte.

Nur zur Erinnerung: Diese Operation „Düstere Zukunft“ war ein Projekt, das von einem neoliberalen Geist getragen war, der aus den USA importiert wurde.

Dagegen hatte sich eine breite Protestbewegung von Studierenden, Gewerkschaften, Wohlfahrtverbänden und sozialen Einrichtungen zu recht gewehrt.

Die „Operation“ sah vor, gut eine Milliarde aus dem Landeshaushalt für 2004 herauszuschneiden. Gezielt ging man gegen ausgewählte soziale Einrichtungen (30,1 Mio.), gegen Studierende (39 Mio.) und die Beschäftigten des Landes (537 Mio.) vor.

Als Teil der „Operation sichere Zukunft“ sollten die freiwilligen Leistungen des Landes um ein Drittel gekürzt werden, und zwar ausdrücklich mit einer politischen Prioritätensetzung.

Vollständig streichen wollte es Zuschüsse etwa für die Schuldnerberatung, die Förderung des beruflichen Wiedereinstiegs von Frauen oder die "Betreuung von Obdachlosen, Nichtsesshaften und sonstigen Randgruppen."

Als weiteren Teil der „Operation sichere Zukunft“ kündigte der Ministerpräsident an, die Arbeitszeit der Landesbeamten auf bis zu 42 Stunden heraufzusetzen und das Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld zu kürzen. Und diese höchste Arbeitszeit in einem Bundesland bestand bis Mitte dieses Jahres.

Und deshalb sage ich an die Adresse von CDU und auch von Grünen: Man kann nicht die Reformation würdigen und die „Operation sichere Zukunft“ aus dem Jahr 2004 verschweigen. Sie atmet den puritanischen Geist der USA, den Roland Koch in Wisconsin als Vorbild genommen hatte.  Dieser Neoliberalismus entstammt dem amerikanischen Puritanismus und hat mit der Reform Luthers nichts zu tun.

Auch wir wollen den Beitrag der Reformation gewürdigt wissen, aber wir wollen ihn eben nicht halbieren!

Sie heben im Entschließungsantrag „die Ausbildung der Eigenverantwortlichkeit“ als Resultat der Reformation hervor.

Eigenverantwortung und Solidarität gehören aber zusammen. Doch davon ist im Entschließungsantrag keine Rede. Das Wort Sozialstaat und Solidarität vermisse ich zudem gänzlich im Entschließungsantrag.

Hören Sie sich an, wie der lutherische Theologe Gerhard Uhlhorn 1882 über Eigenverantwortung gesprochen hat:  „Nein, nicht, wenn jeder für sich sorgt, - so Uhlhorn - sorgt er auch am besten für das Ganze, sondern umgekehrt, wer nicht für sich lebt, sondern für andere, für die Gemeinschaft, der sorgt auch am besten für sich“, nachzulesen auf Seite 126, in „Das Christentum und das Geld“, Schriften der Sozialethik, herausgegeben 1990 von Martin Cordes.

Luther selbst spricht von der Freiheit eines Christenmenschen. [1]Darauf spricht offensichtlich der Entschließungsantrag an. Doch bei Luther geht es gerade nicht um den Einzelnen, der seine Interessen durchsetzt, sondern um den Menschen der dazu befreit ist, seinen Mitmenschen zu helfen (dienen). 

Luther war es, der mit Beginn der Reformation Armenkassen eingeführt hat. Das heißt: Die Obrigkeit wurde in die Pflicht genommen, für die Armen zu sorgen.

Es ist dieser Grundgedanke der lutherischen Reformation: die Einschärfung der sozialen und sonstigen Verantwortung der Obrigkeit. Das ist aber das Gegenteil von der gern beschworenen Eigenverantwortung.

Wenn Ihnen das alles neu vorkommt, dann empfehle ich einen Blick in das neue Buch des Leiters des Sozialinstituts der EKD, Gerhard Wegner, mit dem Titel: Die Legitimität des Sozialstaates.

Luther war ein scharfer Kritiker des Frühkapitalismus. Daran hat übrigens der jüngst verstorbene Heiner Geissler angeknüpft. So antwortete er in einem seiner letzten Interviews vom 26.06.2017, in der Märkische Allgemeine, auf die Frage „Was würde Luther zu den wirtschaftlichen und geistigen Grundlagen in Deutschland sagen?“, folgendes:

„Er müsste sagen: Macht nicht dieselben Fehler wie wir damals. Redet miteinander, und zwar auf Augenhöhe. Er müsste die Kirchen heute fragen: „Warum leistet ihr nicht denselben Widerstand, den wir damals der Kurie gegenüber gezeigt haben, und den ihr heute gegen die globale Wirtschafts- und Finanzordnung richten müsstet. Denn das kapitalistische System ist heute die Ursache für die Bürgerkriege, Armut und die Hungersnöte, die wir auf der Erde haben.“

Auch deshalb sagen wir: Wir sehen in der Reformation die Verbindung mit der Wertschätzung eines Sozialstaates, der dafür sorgt, das Jede und Jeder in Deutschland frei von Not und Furcht leben kann.

Und genau darum ist es so wichtig den Reichtum angemessen umzuverteilen, zum Wohle aller Menschen!

[1] Martin Luther: Von der Freiheit eins Christenmenschen, in: Deutsch-deutsche Studienausgabe, Bd.1, Leipzig 2012.